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Geschichten aus dem Homeoffice: Prof. Dr. Carsten Reuter

Endlich arbeiten, wo andere Urlaub machen - Willkommen im HomeOffice

 

Wer träumt nicht davon - Arbeiten wo andere Urlaub machen!? Kaum eine andere Aufgabe als die eines Professors (Ski-, Surf-, Tennislehrer und alle anderen Berufe dieser Art kommen aufgrund mangelnder persönlicher Eignung nicht in Frage) schien mir zumindest diese Chance so gut zu bieten: Während der vorlesungsfreien Zeiten am Meer am Computer sitzen, lesen, schreiben etc. Welch romantische Vorstellung, die jedoch - wie so viele andere - von der Realität konterkariert wurde. Im März 2020 sind Arbeitsplatz, Spielplatz, Urlaubsort und Wohnort zu einer Einheit verschmolzen.

 

Es erinnerte mich ein wenig an die Klassenfahrten von früher.

 

Weder Telefonkonferenzen, noch Videokonferenzen oder das Arbeiten im HomeOffice waren wirklich neu für mich, aber die Kombination aus Video-Konferenz, Home(Office) und Familie inkl. zwei kleiner Kindern war dann doch „mal was anderes“. Frei nach dem Motto „The Show must go on“ stand Mitte oder Ende März die erste Videokonferenz mit den Projekt-Kollegen auf der Agenda. Während ich mir zu Schulzeiten vor der Klassenfahrt die Fragen stellte, was packe ich in den Koffer? Was ziehe ich für die Fahrt an? Und vor allem - neben wem kann/darf/soll ich sitzen? Stellte ich mir nun die Fragen „was ziehe ich an?“, „wo setze ich mich hin?“, „welches Mikrofon soll ich bloß nehmen?“. Die Kleiderwahl war schnell getroffen, die technische Ausstattung überraschend schnell ausgesucht und eingeschaltet, lediglich die Platzwahl gestaltete sich etwas schwieriger.

 

Unsere Altbauwohnung in Frankfurt ist schon schön und trotz oder grade wegen Ihrer Besonderheiten auch lebenswert, aber warum haben die Zimmer bloß so viele Türen? Das Esszimmer mit dem entsprechend großen Holztisch ist ein angenehmer Arbeitsplatz mit Blick ins Grüne. Das Problem: der Raum besitzt drei Türen: eine zur Küche, eine zum Schlafzimmer und eine zum Balkon. Zumindest Küche und Balkon können mit Kindern im Haushalt schlecht an einem Frühlingstag zur No-Go-Area erklärt werden (Badezimmer inkl. Toilette scheidet aus nachvollziehbaren Gründen ebenfalls aus.). Das Wohnzimmer vielleicht? Großer, heller Raum, professorales Bücherregal, perfekt. Stop, nein. Im Bücherregal haben wir außerhalb der Greifhöhe der Kleinsten unsere „Hausbar“. Außerdem ist auch reichlich U-Literatur im Bestand und ein paar Reiseführer. Die wissenschaftlichen Standardwerke sind entweder im Büro auf dem Campus oder ausschließlich auf der Festplatte. Also dann die Wand mit der Durchgangstür zum Kinderzimmer? Vielleicht auch nicht so gut. Außerdem haben wir in dem Zimmer nur Couchtisch und Sofa, die Kamera würde also direkt in die Nasenlöcher zielen. Auch ungünstig. Bleibt das Schlafzimmer. Echt? Das Schlafzimmer? Videokonferenz mit den Kollegen - geht vielleicht grade noch so. Ich stehe an der brustkorbhohen Kommode, die Kamera leicht erhöht, es sind also nur die Wand im Hintergrund und die Deckenleuchte zu erkennen. Grade so ok. Und die Vorlesungen? Die sollten doch auch per Videokonferenz abgehalten werden. Eine etwas ausgereiftere Lösung muss her - mittels der sog. „Greenscreen-Technik“ kann auch bei Videokonferenzen ein beliebiges Bild in den Hintergrund projeziert werden (der Videokonferenz-Experte weiß natürlich, dass das auch ohne „Greenscreen“ z.B. bei Skype oder Zoom funktioniert, das haben wir aber nicht). Dafür braucht es halt eine grüne Wand… Die entsprechende Ausstattung hatte ich schnell beim Online-Händler meines Vertrauens bestellt und innerhalb von 24h kam das Paket an.

 

Die Wand war zügig aufgebaut, aber irgendwie war es jetzt zu dunkel. Also umgebaut, Laptop mit Kamera ins Fenster gestellt. Reichlich Tageslicht von vorne, das ist sicherlich auch gut für den Teint. Kamera an, Hintergrundbild ausgesucht und ….. ich sehe nur noch einen „Mop“ wo eigentlich mein Kopf sein sollte. Leichte Hektik macht sich breit. Kamera neu ausgerichtet, Wand verschoben, Licht an, Licht aus. Google gefragt und schnell gibt es ein klares Bild: das Grün aus der grünen Hölle des Hinterhofs scheint durch das Fenster auf mein Gesicht und alles Grüne wird von der Software in mein vorher schön ausgesuchtes Hintergrundbild (Blick auf Manhattan in der Abenddämmerung, aufgenommen von der Staten Island Ferry) umgewandelt. Die üblichen Flüche dürfen mit Kindern im Haus nicht mehr über die Lippen gehen, der antrainierte Ersatz „Ach du grüne Neune“ erscheint das erste Mal passend. Die einschlägige Community im Internet empfiehlt u.a. den Raum vom Tageslicht zu entkoppeln (Rollo runter) und dafür mit wohl positionierter Spotbeleuchtung zu arbeiten. Die Vorstellung, wie mein Sohn die Arbeit seines Vaters nach der Wiedereröffnung der Kindergärten dort beschreiben könnte, lässt mich innehalten: also zur Arbeit geht er ins Schlafzimmer, macht die Fenster und das Rollo zu, stellt sich vor die Kamera und manchmal chattet er auch…

 

Also geht es zurück an die Kommode. Stehend vor der Kamera - das soll ja auch dynamischer wirken, mehr Energie versprühen und auch weniger ermüdend sein - 3 - 2- 1…. Die Show kann beginnen. Mit mehreren Personen sind wir nun in der Konferenz - jeder entdeckt die verschiedenen bunten Knöpfchen, das Resultat: bewegte Lippen ohne Ton, dann Ton ohne Bild, dann Ton mit Bild, dafür aber nicht synchron, denn so langsam scheint die Bandbreite ausgeschöpft zu sein. Statt Meeresrauschen gibt es Rascheln und Schnauben aus den Kopfhörern. Es folgen die üblichen gut gemeinten Hinweise zum Verhalten in Videokonferenzen. Nebenbei wandert der Blick über die Bücherregale der Kolleginnen und Kollegen. Aha, so sieht das dort aus! Ich freue mich über mein Setting - bis ein Kollege fragt, welchen Heiligenschein ich mir denn heute ausgesucht hätte. Kurze Irritation, dann die Lösung: es ist die Deckenleuchte. Nach einer gefühlten Ewigkeit ist die erste Konferenz geschafft, die nächste ist schon gebucht, läuft ja so gut! Normalerweise führt mich der Weg aus dem Büro zum Auto oder zum Bahnhof. 45-95 Minuten entspannte Auto- bzw. Bahnfahrt mit etwas Zeit für die Zeitung, Musik oder Telefonieren. Jetzt führt der Weg aus dem Büro direkt über die Türschwelle auf den überdachten Spielplatz, auf dem am späten Nachmittag nicht die Sonne, sondern die Stimmung ihren Zenit längst überschritten hat. Das Abendessen erinnert dann wieder etwas mehr an einen Urlaubsort: bunt gedeckt, frischer Salat, etc. Auch die überreizten und/oder übermüdeten Kinder passen in das Bild und der Fußboden sieht tatsächlich bald wie in einem großen Speisesaal aus. Der entspannte „Sundowner“ wird erst lange nach Sonnenuntergang auf dem Balkon eingenommen. Endlich Ruhe…. Ping - „Sie haben eine neue Nachricht!“ - Schade, nicht vom Reiseleiter.

 

Ein Beitrag von Prof. Dr. Carsten Reuter