New Work - New Home?
Wenn der Postmann zweimal klingelt
Ich wusste gar nicht, dass unser Mieter immer morgens um 8 Uhr nach Hause kommt. Ich wusste auch nicht, was die Schwiegereltern im Parterre oder die Nachbarn so den Tag über machen: Einkaufszeiten, Essenszeiten, Ruhezeiten, Kinderzeiten, Hundezeiten, … so ist also deren Lebensrhythmus. In der Mittagspause erfahre ich jetzt, was mein Sohn (16 Jahre, Homeschooling) an Büchern liest und Serien schaut. Von meinem Sohn (20 Jahre, Homestudying) erfahre ich, in welcher biologischen Verwandtschaftsbeziehung Salat und Schnittlauch stehen. Es war mir bisher auch nicht so bewusst, dass um uns herum drei kleine Mädchen mit drei großen Stimmtalenten aufwachsen. Wussten Sie, dass manche Postboten tatsächlich zweimal klingeln?
Leben und Arbeiten verknüpfen sich
Während wir im Arbeitsteam mangels Schreibtischgespräch und Kaffeepause eher weniger voneinander erfahren, gewinne ich durch das Homeoffice neue Einsichten in meinen privaten Nahbereich. Die Wohngemeinschaft erweitert sich zur Arbeitsgemeinschaft. Diese Idee, Leben und Arbeit näher zusammen zu bringen, ist nicht neu. Die Diskussion um New Work propagiert schon lange, dass es das große Glück des kleinen Angestellten ist, wenn sich der Arbeitsort zu einem Lebensort entwickelt. Aus dem Silicon Valley kennen wir die Strategien, aus einem Büro einen Live-Style-Ort zu machen und aus Kollegen möglichst Freunde werden zu lassen – der obligatorische Tischkicker lässt grüßen. Freilich wurde das ersonnen, um die Beziehungen (und damit die Kreativität, Produktivität und Zufriedenheit) in der Arbeitswelt zu stärken. Bei mir verweben sich nun auch Alltag und Arbeit, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen: Die Arbeit wandert in den privaten Raum. Das Beziehungsnetzwerk im häuslichen Umfeld wird gestärkt. Ich bekomme die Freuden und Leiden meiner Familie wie aus der Nachbarschaft mit. Auch diese erfahren erstmals, was ich eigentlich so ganz konkret mache. Es sind diese kleinen Zeitschnipsel für Treppenhausgespräche (leider steht dort kein Tischkicker) oder Grüße über den Balkon (mobiles Arbeiten geht auch dort :-)), die langsam eine neue Qualität entstehen lassen. Jetzt nehmen sogar meine Kinder an Webinaren teil, die ich organisiere – und ich freue mich darüber. „New Work“ wird zum „New Home“!
Was fehlt und was werden könnte
Was vielleicht leidet ist der Bezug zu den Kolleginnen und Kollegen. Wir finden uns zwar regelmäßig in virtuellen Meetings zusammen, jedoch bleibt da vermutlich ein Rest an informeller Kommunikation, der sich über terminierte Videokonferenzen nicht findet. Freilich erweitern kollaborative Tools auch diese Form der Zusammenarbeit und doch verliert sich dabei eben jene Dimension, die im Sinne des New Work durch die Erweiterung des Arbeitsortes zum Lebensort für die berufsbezogenen Zusammenarbeit befördert werden sollte. Der virtuelle Tischkicker bringts halt einfach noch nicht so ganz.
Wie so oft im Leben wünsche ich mir nun einfach beides: Weiterhin einen Anteil Homeoffice, um diese gewonnene Beziehungsqualität zuhause weiter pflegen zu können. Gewiss auch wieder einen Anteil Büropräsenz, um mit meinen geschätzten Kolleginnen und Kollegen auf Draht zu sein und spontane Ideen auszutauschen. Bleibt nur die Frage: Wo steht als erstes ein Tischkicker?
Ein Beitrag von Joachim Schmitt