Teil 3 der Ringvorlesung Nachhaltigkeit: Prof. Dr. Ruben Zimmermann (Johannes-Gutenberg-Universität Mainz)
Ein Beitrag von Joachim Schmitt und Katja Leimeister
Das Orientierungsproblem der Moderne
Wer auf der Suche nach Orientierung ist und dabei über Begründungen des Handelns, also über Ethik, nachdenkt, der findet in der Weltgeschichte viele Quellen. Für Europa ist die, von der Aufklärung geprägte und mit Kant entfaltete, Ethik dominant, in der immer wieder der „kategorische Imperativ“ als Fixstern über allen möglichen politischen Debatten steht: „Handle so, als dass die Maxime Deines Willens jederzeit zum allgemeinen Gesetz werden kann.“ Der Anspruch der Ethik ist dabei kein geringerer als universelle und zeitlose Geltung zu beanspruchen.
Gleichzeitig kennt ein jeder Mensch die alltägliche Erfahrung, an diesem hehreren Ansatz zu scheitern: Wir leben mal über unsere Verhältnisse, mal gegen unsere Gesundheit und mal auf Kosten der nachwachsenden Generation. Zudem zeigt sich, dass in einer hochgradig differenzierten und in sich widersprüchlichen Welt das einzig Richtige und Wahre erkennbar schwer auszumachen ist. Mit Blick auf ein möglichst nachhaltiges Leben stellt sich zum Beispiel die Frage: Ist es vertretbar eine biologisch hergestellte Ananas aus Israel oder Palästina zu kaufen? Darin sind gleich mehrere Zielkonflikte versteckt, womit man selbst mit den allenthalben empfohlenen „Nützlichkeitsüberlegungen“ (Utilitarismus) nicht unbedingt weiterkommt.
Vor diesem Hintergrund kann sich der Rückgriff auf ältere, antike und biblische Quellen unserer Geistesgeschichte lohnen. Der Theologe Zimmermann zitiert dazu ein Beispiel aus den Briefen des Apostels Paulus an die frühen Gemeinden. Für den Alltag der Menschen seiner Zeit empfahl dieser die Anwendung von zwei Prinzipien:
- Es gibt notwendige und allgemein verbindliche Regeln für ein richtiges Leben.
- Situativ und begründet kann man auf die Anwendung dieser Regeln verzichten.
Im biblischen Beispiel geht es um den Verzicht auf erwartbare Versorgungsleistungen zugunsten eines friedfertigen Miteinanders in den Gemeinden. In diesem Sinne entfaltet sich eine Ethik „von Fall zu Fall“.
Auf der Suche nach dem guten Leben
Auch ein solcher Ansatz muss einer praktischen Überprüfung standhalten. Im interdisziplinären „Enhancing Life Project“ (University of Chicago) hat Ruben Zimmermann an Orientierungsfragen für „ein gutes Leben“ in der postmodernen und technologisch aufgeladenen Welt geforscht. Im Zeitalter von Big Data, Gentechnik und überschießendem Reichtum stellt sich auch die Frage des Verzichts. Diese spezifische Haltung kann nur unter folgenden Bedingungen erfolgen:
Technologien und Reichtümer können zum Wohle und auch zum Nachteil des Lebens eingesetzt werden. Insofern bringen die modernen Möglichkeiten auch die Frage nach Anwendung oder Verzicht mit in das Leben. Dieser Prozess der Entscheidungsfindung ist eine Kernfrage der Verzichts-Ethik. Zugleich ist diese anerkanntermaßen immer nur eine Ethik für den relativ wohlhabenden Teil einer Gesellschaft bzw. der Weltgemeinschaft. Weil aber gerade die relativ reichen Gesellschaften für die weniger nachhaltige Lebensweise auf der Welt stehen, ist sie für die weitere Entwicklung der Menschheit gleichwohl hoch relevant: Die 10 % reichsten Menschen der Welt verbrauchen 90 % der Ressourcen.
Verzicht als Tugend und Schutz als Prinzip
Insofern kann es sich für eine nachhaltigere Entwicklung der menschlichen Lebensweise durchaus lohnen, eine Ethik des Verzichts weiter zu entfalten. Erkennbar ist, dass Verzicht einerseits populär ist und viele Menschen sogar Wege des ausgewählten Totalverzichts gehen. Ein aktuelles Beispiel dazu ist die vegetarische oder vegane Ernährungsweise (Verzicht auf Fleisch, bzw. tierische Produkte) oder die Sharing Economy (Verzicht auf Besitz), die im CarSharing etabliert ist, aber auch schon um Bereiche wie Werkzeuge, Kleidung, Wohnung erweitert wurde.
Darüber hinaus lässt sich ein Trend beobachten, dass Konsumenten jenseits des Totalverzichts, vielfach situative Verzichts-Entscheidungen treffen. Das hat Potenzial: So ist der Anteil an Vegetarier in Deutschland mit unter 5 % nach wie vor überschaubar. Gleichzeitig bekennen sich in einer Studie der Lebensmittelindustrie mehr als 1/3 aller Befragten als „Flexitarier“ – also als Konsumenten, die nicht immer, aber immer öfter auf Fleisch verzichten. In diesem Sinne haben sich „Verzichtsprodukte“ eine relevante (oft auch hochpreisige) Größe im Marktgeschehen erobert: Autofahrer trinken „ohne Alkohol“, Elektroautos fahren „ohne Verbrenner“, Müsliriegel schmecken „ohne Zucker“, usw. Nach einer weltweiten Studie bei Menschen, die bewusst weniger konsumieren als sie könnten, gaben 87 % an, dass für sie „Verzicht eine Quelle der Zufriedenheit“ ist. In diesem Sinne geht es in einer Verzichtsethik also eher um eine individuelle Tugend, die eine selbstbestimmte Entscheidung sucht, und nicht um ein allgemeines Prinzip, das z. B. durch gesetzliche Regelungen eingefordert werden könnte. Ob dies freilich für ein ausreichend nachhaltiges Leben reicht, ließ auch Zimmermann dahingestellt.
In seinem Resümee empfiehlt Ruben Zimmermann das Potenzial der Verzichtsethik nicht zu ignorieren. In diesem Sinne gilt es, Anreize zu setzen und Bedingungen zu schaffen, die ein freiwillig nachhaltiges Leben unterstützen. Diese auf die einzelne Person ausgerichtete Orientierung kann durchaus widerspruchsfrei, im Sinne allgemeiner Prinzipien, mit einem handlungsleitenden rechtlichen Rahmen versehen sein. Auf diese Weise kann der einzelne Mensch in seiner Selbstbestimmung respektiert und zugleich der Schutz von Leib und Leben der gegenwärtigen (Bsp. Corona) wie zukünftigen Generationen (Bsp. Klimawandel) gewährleistet werden.
Mehr Informationen zu diesem Thema unter www.ethikmainz.de
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