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Ringvorlesung "Europäischer Gerichtshof und Bundesverfassungsgericht - Wer hat das letzte Wort?"

Eine Beziehungskrise am Beispiel der Architektur des Eurosystems

 

Beitrag von Katja Leimeister zum Vortrag von Prof. Dr. Ralph Hirdina im Rahmen der Ringvorlesung „Krisen und Auswege“ am 07. November 2022

 

Die Europäische Union (EU) hatte schon viele Krisen zu meistern. Beispiele aus den vergangenen Jahren sind der Umgang mit hochverschuldeten Euroländern wie Griechenland, Italien, Spanien, Portugal oder der Austritt Großbritanniens aus der EU. Schon in den Anfangsjahren des Zusammenwachsens der Europäischen Staaten gab es ernste Auseinandersetzungen in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), zum Beispiel anlässlich des Beitrittsgesuchs Großbritanniens im Jahre 1963, welches Charles de Gaulle (frz. Premier) vehement ablehnte.

 

Derzeit sieht sich die EU nicht nur mit ihren innenpolitischen Krisen konfrontiert, sondern auch mit Problemen in der übrigen Welt. Neben den wirtschaftlichen Problemen (Schulden-, Euro-, Energiekrise) sind auch zahlreiche andere politische Fragen beziehungsweise Gefahren auf der Tagesordnung, die den Zusammenhalt der EU auf eine Belastungsprobe stellen: Wie stabil ist die Demokratie in den USA noch und wie geht die EU damit um? Was sind die Antworten auf den Russland-Ukraine-Krieg? Wie geht die EU mit den Flüchtlingsströmen aus dem Nahen Osten, Afrika und der Ukraine um? Wie stabil sind die Beziehungen zur Türkei, zu China, Katar oder Saudi-Arabien? Die Welt scheint sich in einen freiheitlichen und autokratischen Block zu spalten. Die fatale Rückbesinnung auf den Nationalismus scheint auf dem Vormarsch. Auch innerhalb der EU verklären politische Strömungen den Vorzug des Nationalstaates gegenüber der EU. Jüngste Beispiele:  Die Wahlen in Italien und Frankreich, in denen rechte Parteien große Stimmengewinne erzielen konnten. Auch Deutschland hat aus Sicht der anderen Mitgliedstaaten der EU mit der „Gaspreise-Bremse“ einen unkollegialen nationalen Pfad beschritten, denn sie könnten, so die Kritiker, einen derartigen Energiepreisdeckel aus eigener Kraft nicht stemmen.

Der deutsch-französische Motor der EU ist ins Stottern geraten, wie sich an der Verschiebung des deutsch-französischen Ministertreffens vom Herbst 2022 auf Januar 2023 und den Differenzen bei der europäischen Verteidigungs-, Energie- und Schuldenpolitik ablesen lässt. Durch die Betonung ihrer Differenzen statt ihrer gemeinsamen Stärken schwächt sich die EU selbst. Die Mitglieder der EU sind mit Blick auf die gegenwärtigen Krisen gut beraten, die EU als politisches Projekt weiterzuentwickeln.

 

Die Euroländer sollten durch solides Haushalten und die Umsetzung politischer Reformen für die Stabilität ihrer gemeinsamen Währung eintreten. Gerichtliche Auseinandersetzungen über die Grenzen des Mandats der Europäischen Zentralbank (EZB) im Zusammenhang mit dem Staatsanleihenkaufprogramm (PSPP = Public Sector Purchase Programme) haben das Zeug, Europa weiter zu spalten. Die EZB sollte sich selbst kritisch die Frage stellen, ob der massive Ankauf von Staatsanleihen in den vergangenen Jahren nicht eine von den europäischen Verträgen verbotene Staatsfinanzierung der Euroländer ist. Auch sollte die EZB ihre Geldpolitik zur Sicherung der Preisstabilität besser erklären.

 

Viele Krisen der EU wären vermeidbar, wenn die involvierten Akteure noch mehr diplomatisches Geschick im Miteinander an den Tag legten. Ein Beispiel hierfür ist der Streit zwischen dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) und Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anlässlich des Staatsanleihenkaufprogramms. Wie ist er entstanden?

 

Der Rechtsrahmen

 

Die Europäische Union ist ein Staatenverbund mit eigener Rechtspersönlichkeit, aber kein Bundesstaat. Nur für die von den Mitgliedsstaaten in den europäischen Verträgen übertragenen Kompetenzbereiche ist die EU zuständig. Es gilt das Subsidiaritätsprinzip mit begrenzten Einzelermächtigungen. Sprich: Die Mitgliedsstaaten sind die „Herren der Verträge“.

 

Die Europäische Zentralbank (EZB) führt in Zusammenarbeit mit den nationalen Zentralbanken (ESZB) die Geldpolitik für die Euroteilnehmerländer auf EU-Ebene einheitlich durch. Die vorrangige Aufgabe des ESZB ist die Gewährleistung der Preisstabilität in der Eurozone. Dazu stehen der EZB die geldpolitischen Instrumente zur Verfügung, auch die Offenmarktpolitik.

Andere Regeln gelten für die Fiskalpolitiken: Sie liegen ausschließlich in den Händen der Mitgliedsstaaten. Mögliche Absprachen dazu erfolgen über die Treffen der EU-Finanzminister. Hier wird versucht, durch ein konzertiertes Vorgehen stabile nationale Haushalte zu gewährleisten. Ansonsten gilt der No-bail-out-Grundsatz, wonach jeder Mitgliedstaat der EU für seine eigenen Schulden haftet.

 

Worüber ist man uneins?

 

Stein des Anstoßes ist das von der EZB aufgelegte Staatanleihenkaufprogramm. Mit dem PSPP werden von der EZB unter anderem Staatsanleihen und Schuldtitel regionaler und lokaler Gebietskörperschaften der Euroländer erworben. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob ein solcher Ankauf (insbesondere in dem immensen Umfang) durch die EZB und die Zentralbanken der Euroländer noch vom Mandat der Geldpolitik gedeckt ist, oder ob das Kaufprogramm eher dem Bereich der Fiskalpolitik zuzuordnen ist.

Das BVerfG hat den EuGH im Rahmen einer Vorlagefrage gebeten zu prüfen, ob das PSPP der EZB noch der Geldpolitik zuzuordnen und damit rechtmäßig ist oder ob eine Mandatsüberschreitung der EZB (ein sogenannter Ultra-vires-Akt) vorliegt. Der EuGH kam zu dem Ergebnis, dass das PSPP vom Mandat der Geldpolitik gedeckt sei.

 

Das BVerfG nahm das Urteil des EuGH zum Anlass, dieses selbst als „Ultra-vires-Akt“ zu klassifizieren. Aus Sicht des BVerfG hat der EuGH unter Missachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht ausreichend geprüft, welche wirtschaftspolitischen Auswirkungen das PSPP hat. Zu den relevanten wirtschaftspolitischen Folgen des PSPP gehört nach Ansicht der BVerfG das Risiko von Immobilien- und Aktienblasen sowie ökonomische und soziale Auswirkungen, von denen nahezu alle Bürgerinnen und Bürger, die etwa als Aktionäre, Mieter, Eigentümer von Immobilien, Sparer und Versicherungsnehmer jedenfalls mittelbar betroffen sind.

 

In der Missachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch den EuGH hat das BVerfG einen Ultra-vires-Akt des EuGH erkannt, da die Mitgliedstaaten dem EuGH nur die Kompetenz übertragen hätten, Recht im Rahmen der anerkannten Rechtsgrundsätze unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu sprechen.

 

Das BVerfG verpflichtete Bundesregierung und Bundestag, die vorgenannte Rechtsauffassung gegenüber der EZB deutlich zu machen oder auf sonstige Weise für die Wiederherstellung vertragskonformer Zustände zu sorgen.

 

Die Europäische Kommission sah das Primat des Vorrangs europäischen Rechts verletzt und leitete wegen des Urteils des BVerfG ein Vertragsverletzungsverfahren gegenüber dem Mitgliedsstaat Deutschland ein. Begründung: Deutschland erkenne den Vorrang des EuGH, das Handeln der EZB zu überwachen, nicht an.

 

Die Bundesregierung hat reagiert, den Vorrang des EuGH anerkannt und betont, dass sich so etwas nicht wiederhole. Das ist insofern kritisch, da das BVerfG eine unabhängige Instanz im Sinne der Gewaltenteilung ist und den Weisungen der Bundesregierung nicht unterliegt.

 

Im Ergebnis kann die EZB weiterhin Staatsanleihen im großen Umfang kaufen. Ein neu aufgelegtes Programm der EZB namens TPI (Transmission Protection Instrument) sieht sogar den gezielten Ankauf von Staatsanleihen einzelner Euroländer vor, um den Zinsspread zu nivellieren. Das ist im Sinne hoch verschuldeter Euroländer mit geringerer Bonität – darunter Italien, Griechenland u.a. – sicher von Vorteil.  Insofern ist auch zu verstehen, dass andere Länder hier keinen Ultra-vires-Akt bemängeln. Auch die Präsidenten der EZB – besetzt mit Persönlichkeiten aus Italien und jetzt Frankreich – tendieren offenbar zu einer weiten Auslegung des Mandats der Geldpolitik.

 

Was könnte man besser machen?

 

Juristisch gesehen: In den EU-Verträgen fehlt eine Konkretisierung, unter welchen Bedingungen und in welchem Ausmaß Staatsanleihen der Euroländer angekauft werden dürfen. Damit erhielte das Instrumentarium der Offenmarktpolitik der EZB in Abgrenzung zum Verbot der Staatsfinanzierung Konturen und das Vertrauen in den Euro würde gestärkt.  

 

Diplomatisch gesehen: Von Seiten der Mitgliedsstaaten wäre es ratsam, den Vorwurf des Ultra-vires-Aktes möglichst zu überdenken und zu vermeiden. Denn er eröffnet den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, unliebsame Beschlüsse von EU-Organen zu kassieren. Differenzen in der Sache zwischen Organen der EU und einzelnen Mitgliedstaaten sollten möglichst im Konsens auf diplomatischem Wege ausgeräumt werden. Dies gilt auch für Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten.