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Ringvorlesung "Krise der Kirche – Krise des Glaubens"

Krise der Kirche – Krise des Glaubens

Beitrag von Lucia Wenderoth zum Vortrag von Stephan Arras im Rahmen der Ringvorlesung „Krisen und Auswege“ am 21. November 2022

 

Stephan Arras ist Pfarrer und Propst, was einem Regionalbischof entspricht. Bis vor kurzem war er Auslandspfarrer in Irland. Seit Jahren kommen die großen Kirchen in Deutschland aus den Negativschlagzeilen nicht heraus. Rückläufige Mitgliederzahlen, Missbrauchsskandale, allgemeiner Bedeutungsverlust, ungeliebte Kirchensteuer.  Was heißt das für die Zukunft?  Was hat das mit Glauben zu tun? Auf genau diese Fragen möchte der Theologe in seinem Vortrag mit dem Titel „Krise der Kirche – Krise des Glaubens“ eingehen. Neben einer kritischen Darstellung sollen Wege aufgezeigt werden, wie mit der Krise der Kirchen umgegangen wird und umgegangen werden könnte.  

 

Zu Beginn seines Vortrages entführt Herr Arras seine Zuhörer in das Jahr 312 n. Chr., in dem an der Milvischen Brücke bei Rom in einer Schlacht Kaiser Konstantin im Zeichen des Kreuzes gesiegt hat. Natürlich gibt es über dieses Ereignis allerlei Geschichten und Erzählungen, Fakt ist, dass nach dieser Schlacht das Christentum zur Staatsreligion erhoben wurde und damit Europa, aber auch andere Teile der Welt sehr stark geprägt hat. Auch in vielen anderen Ländern wurde dieser Glaube, ausgehend von diesem Geschehnis, zur Staatsreligion. Kaiser Constantin sagte nach seinem Sieg, wenn das Christentum so stark sei, dass man damit gegen eine überlegen Macht gewinnt, dann soll das künftig den ganzen Staat beherrschen. Lange sind sich dann im Mittelalter Kaiser und Papst auf gleicher Höhe begegnet, diese Reformation dürften eine der bedeutendsten Ereignisse europäischer Geschichte gewesen sein. 

 

Zur Jahreswende 2021/2022 hat sich ebenfalls etwas Historisches ereignet. Dies glich Paukenschlag, obwohl es in den Medien nur eine Randnotiz bekam: Der Anteil der beiden großen Kirchen in Deutschland (gemessen an der Anzahl der Bevölkerung) ist auf unter 50 Prozent gesunken. Was das bedeutet, mögen ein paar Zahlen deutlich machen: Im Jahr 1951, also noch vor gar nicht so langer Zeit, waren 96 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen entweder katholisch oder evangelisch. 1990 waren das immerhin noch 72 Prozent. Die aktuellen Prognosen sagen voraus, dass wir im Jahr 2060 bei ungefähr 25 Prozent sind. Die Mitgliedschaften bei den zwei größten Kirchen sind dann innerhalb von gut 100 Jahren auf ein Viertel gesunken. „Das ist schon mehr als nur eine Krise, da verändert sich gewaltig etwas. Aber nicht nur die Zahlen sprechen Bände, wir beobachten bereits seit Jahren, dass wir in der Öffentlichkeit viel weniger wahrgenommen werden, als es noch vor ein paar Jahren der Fall gewesen ist“, stellt Herr Arras fest. Wichtig sei dabei zu erkennen, dass sich die Menschen nicht einfach anderen Kirchen zuwenden, es werden vielmehr immer mehr Menschen religionslos. 

 

Worin besteht die Krise?

Als Papst Johannes Paul II im April 2005 starb, wurde sein Tod unglaublich medial inszeniert und die ganze Welt hat daran teilgenommen. Mindestens genauso zelebriert wurde im Anschluss die Papstneuwahl. Rund zwei Wochen später wurde Kardinal Ratzinger zum Papst gewählt, als Symbol dafür stieg der berühmte, weißer Rauch aus der sixtinischen Kapelle in Rom auf. Es begann die Ära von Papst Benedikt XIV, die Bildzeitung titulierte damals das Ereignis mit „Wir sind Papst“. Doch solche Ereignisse - und damals war die Kirche in den Medien noch präsenter, konnten über die Tatsache nicht hinwegtäuschen, dass die katholische Kirche nicht nur eine altmodische, charmante Glaubensinstitution war, sondern ein massives Problem hatte aufgrund der steigenden Missbrauchszahlen von Kindern, Jugendlichen und Frauen - und das weltweit. Obwohl es darüber bereits in den 90ger Jahren Meldungen gab, schenke man diesen Vorfällen erst im Jahr 2010 Aufmerksamkeit, als der Jesuit Klaus Mertes, damals noch Rektor des Jesuitengymnasiums Canisius-Kolleg in Berlin, einen Brief darüber verfasste und dieser medial wahrgenommen wurde. Erst ab diesem Zeitpunkt war das Thema Missbrauch in der Kirche auch in deutschen Medien. Bis heute liegt allerdings die Aufklärung dieser Fälle weitgehend in der Hand der katholischen Kirche selbst. Der Umstand, dass die Täterin die Aufklärung selbst leiten soll, wird von vielen als unbefriedigend wahrgenommen. 

In Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern zeigt sich, dass die Sexualmoral der katholischen Kirche vorsichtig gesagt überholt wirkt (Zölibat, nur unverheiratete Priester). Die theologischen Begründungen für diesen Umstand sind zudem sehr wackelig und anfechtbar, die Kirche erscheint deshalb vielen Menschen fern und fremd. Ein kleiner Blick über den Tellerrand: Noch bis vor kurzem hat man gesagt, Irland sei das katholischste Land Europas. Doch der Absturz der Kirche in den letzten Jahren - und das hat Herr Arras persönlich miterlebt, sei mit Händen zu greifen gewesen und ging unglaublich schnell. Bis in die deutschen Medien haben es die beiden großen Referenden gebracht (2015 Ehe für Homosexuelle, 2018 Abschaffung der Abtreibungsregelungen). Dreiviertel der irischen Bevölkerung stimmen für die neuen Regelungen der Abtreibung. „Das war mehr als nur eine Ohrfeige für die katholische Kirche. Eines der katholischsten Länder Europas entwickelte sich praktisch über Nacht zu einem der säkularsten Staaten“, erinnert sich Theologe Arras. Besonders in der Hauptstadt Dublin spielt die Kirche überhaupt keine Rolle mehr. Kaum jemand geht dort noch in den Gottesdienst - das war noch bis vor ein paar Jahren völlig anders. Die katholische Kirche hat dort noch vor gar nicht langer Zeit das gesamte Bildungs- und Gesundheitswesen in der Hand gehabt - all das ist innerhalb von wenigen Jahren weitgehend staatlich geregelt worden.

Ein weiteres Krisensymptom ist die Top-down Struktur der katholischen Kirche mit dem Papst ganz oben, dann den Kardinälen und Bischöfen usw., das so genannte Kirchenvolk hat relativ wenig Rechte. „Das wirkt vor allem auf junge Mensch recht unattraktiv, denn wenn man schon Mitglied einer Kirche wird, möchte man irgendwo etwas mitgestalten dürfen“, erklärt Arras den Verdruss der Nachwuchsmitglieder. 

 

In der evangelischen Kirche sieht es etwas anders aus mit der Krise, denn sie war von Anfang an mehr der Demokratie zugeneigt. Debattenkultur und ein breites, gesellschaftliches Engagement sind schon lange ein fester Bestandteil dieser Konfession. Seit den 50er Jahren sind dort auch Frauen im Pfarrberuf zugelassen, später dann auch in leitenden, kirchlichen Ämtern. Die evangelische Kirche in Deutschland hat auch sehr politische Phasen gehabt, eines der prominentesten Beispiele waren die Demonstrationen gegen den Bau der Startbahn-West am Frankfurter Flughafen. Doch das politische Engagement hat auch viel Kritik ausgelöst: Die Kirche sei zu politisch und würde sich zu wenig um den Glauben des Menschen kümmern. Denn schließlich ginge es bei einer Religion um den Gott, Jesus Christus und Seelsorge. Obwohl es in der evangelischen Kirche deutlich weniger Skandale und Missbrauchsfälle gab, treten dort noch mehr Menschen aus als es in der katholischen Kirche der Fall ist. Über die Gründe lässt sich nur mutmaßen: Vielleicht ist es die mancherorts veraltete Art und Weise wie die Gottesdienste gestalten werden, aber auch die Vorliebe zu den immer ausufernden Strukturdebatten dürfte dazu einiges beitragen. Denn das bedeutet, dass sich die Kirche immer mehr mit sich selbst beschäftigt und die Menschen aus dem Blick verliert. 

 

Eine weitere Ursache für die stark rückläufigen Mitgliederzahlen ist die Kirchensteuer. Diese machen acht oder neun Prozent der Einkommenssteuer aus. Das Dilemma dabei: Normalerweise ist die Kirche vom Staat unabhängig, durch die über den Staat abgerechneten Steuern ist dies jedoch nicht der Fall. So erhält die Kirche mit jeder Lohn- und Lohnerhöhung, aber auch Sonderzahlungen wie der kürzlich ausgezahlten Energiepauschale, automatisch auch mehr. Auch dieser Umstand verursacht bei vielen Zahlenden Ärger. 

 

Anderseits basiert die Kirchensteuer auf einem sehr gerechten Abrechnungssystem, denn die Höhe der Abgaben wächst proportional mit der Höhe der eigenen Einnahmen. Bei Familien mit mehr als drei Kindern entfällt die Kirchensteuer sogar komplett.

Schaut man sich andere Religionen und Konfessionen an, stellt man fest, dass die Situation dort nicht besser ist. Es ist eben nicht so, dass die Menschen, die aus der Kirche austreten, zu einer anderen Glaubensgemeinschaft wechseln - sie wenden sich von den Religionen komplett ab.

 

„Das alles reicht noch nicht, um die Krise wirklich voll zu erfassen. Es gibt eine innere Krise der Kirchen, die meiner Meinung nach fast noch interessanter zu betrachten ist, als die strukturelle Krise - nämlich die Krise des Glaubens“, erklärt Herr Arras. Lange war es hier in Deutschland so, dass das was in religiöser Hinsicht geglaubt wurde, überhaupt nicht individuell geregelt war. Also keiner eigenen, persönlichen Überzeugung entsprochen hat. Der Glaube wurde von der Obrigkeit diktiert und vorgegeben. Sichtbar wurde dies insbesondere nach der Reformation mit der lateinischen Formel cuius regio, eius religio, „Wessen das Gebiet, dessen die Religion“. Wenn ein Fürst direkt nach der Reformation den evangelischen Glauben angenommen hatte, dann wurden automatisch seine Untertanen ebenfalls evangelisch. Niemanden interessierte es, ob derjenige einen persönlichen Bezug zu dieser Religion hat. Im Nachhinein könnte man sagen, die Religion war damals eine von  oben bestimmte, gegebene Kultur. 

 

Und genau das hat sich im 20. und 21. Jahrhundert dramatisch verändert. Wir leben in einer Welt, in der das Individuum und die persönliche Wahlfreiheit groß geschrieben werden. Der einzelne Mensch hat nun eine Vielzahl an Wahlmöglichkeiten und beansprucht diese auch. Das ist gerade im religiösen Bereich deutlich erkennbar. Längst haben die Kirchen nicht mehr die alleinige Deutungshoheit - weder was den Glauben angeht, noch Moral und Ethik. Menschen wählen selbst, wem oder was sie glauben und was ihnen relevant für ihr eigenes Leben erscheint. Mischformen sind selbstverständlich geworden, dies kann man auch innerhalb der großen Kirchen beobachten, wenn beispielsweise ohne viele Berührungsängste in den christlichen Gemeindehäusern mit buddhistischen Elementen gearbeitet wird. 

 

Viele Kirchenmitglieder sind nicht aufgrund ihres Glaubens an Gott ein Teil dieser Gemeinschaft, sondern wegen des sozialen Engagements der Kirche. Auf der anderen Seite gibt es bekennende Christen, die jedoch unabhängig von einer verfassten Kirche ihren Glauben ausüben möchten. Und schließlich gibt es diejenigen, die durch die Industrialisierung und Technologisierung unserer Gesellschaft den Glauben an Gott verloren haben, teils auch dadurch, dass dieser niemals wissenschaftlich nachgewiesen werden konnte.

 

Schaut man jedoch über den Tellerrand hinaus, so ist es weltweit gesehen mit dem Rückgang der Religionszugehörigkeit gar nicht so eindeutig. Noch ist es so, dass die Religionen immer mehr werden. In Afrika und China kann man beispielsweise ein enormes Wachstum der Christenheit beobachten. Doch in Europa ist die Entwicklung wie bereits geschildert, eine ganz andere.

 

Welche Strategien gibt es, um dieser Krise zu begegnen?

Doch wie gehen die Kirchen mit dieser Krise um? Um die Situation nochmals mit Zahlen zu verdeutlichen: Von knapp 100 Prozent im Jahr 1950, werden im Jahr 2060 nur noch knapp 25 Prozent der Bevölkerung Kirchenmitglieder sein. Dieser Absturz lässt sich nicht so einfach wegstecken. 

 

In der katholischen Kirche gibt es aktuell zwei verschiedene Strategien, wie sie mit dieser Situation umgeht. Die erste Strategie ist der so genannte synodaler Weg. Ein Reformvorhaben, dass im Jahr 2019 gestartet wurde. Der Begriff bezeichnet einen gemeinsamen Weg, den die Kirche mit ihren Anhängern zukünftig gehen möchte. Eine Synode ist in der Regel eine Versammlung, in der man in einem großen Kreis zusammen kommt und gemeinsam Beschlüsse und Entscheidungen trifft - also eine demokratische Versammlung. Genau das ist auch das Ziel dieser Bewegung in der katholischen Kirche. Die Versammlung setzt sich aus 69 Mitgliedern der Bischofskonferenz so wie 69 Mitgliedern des deutschen Zentralrats der Katholiken zusammen. Zusätzlich sind noch eine ganze Reihe weiterer Personen dabei, die kirchlichen Organisationen, Werken, oder Verbänden angehören. Ziel dieses Weges war es von Anfang an, die sexuellen Übergriffe aufzuarbeiten und besser zu regeln. Zudem möchte man das Vertrauen der Gläubigen zurückgewinnen.

 

Diese Entwicklung beziehungsweise Bewegung kann man auch in anderen Ländern beobachten, in Deutschland jedoch von einer besonderen Intensität. Innerhalb dieser Versammlungen haben sich insgesamt vier Schwerpunkte herausgebildet: Der erste Schwerpunkt behandelt die Macht- und Gewaltenteilung der Kirche, bei dem zweiten Thema geht es um die priesterliche Existenz in der heutigen Zeit und der Frage, ob man sich Priester vorstellen könnte die heiraten oder gar Frauen sind. Der dritte Themenschwerpunkt behandelt Frauen in den Diensten und Ämter in der Kirche und der vierte Themenblock behandelt das Leben in gelingenden Beziehungen, also der Bereich Sexualität und Partnerschaft. Ob dieser synodale Weg Erfolg haben wird, ist aktuell noch sehr fraglich. Schon im Juni 2019 hat der Papst Franziskus an das „pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ geschrieben, dass Reformen zwar gut seien, es dürfte aber nicht um die Anpassung an den Zeitgeist und um rein strukturelle Fragen gehen. Kritiker prognostizieren: Wenn tatsächlich die gewünschten Reformen eingeführt werden, wird aus der katholischen eine evangelische Kirche. 

 

Eine andere Strategie liegt in dem Ansatz der katholischen Kirche, den Weg zu einer reinen und unverfälschten Lehre zurück zu gehen. Im Rahmen einer Debatte um den synodalen Weg, hat sich auch Kardinal Kurt Koch aus der Schweiz im Rahmen eines sehr umstrittenen Interviews zu Wort gemeldet. Darin unterstellt er dem Synodalen Weg, dass neben der Heiligen Schrift und der Tradition der Kirche noch weitere Quellen zur Wahrheitsfindung hinzugezogen werden. Nämlich das Gefühl der Gläubigen, also der Basis. Der Skandal in diesem Interview bestand darin, dass Kardinal Kurt Koch dieses mit dem Dritten Reich verglichen hat. Die Aufregung und Empörung war groß, aber hinter Kardinal Kochs Äußerungen steckte eine gewisse Strategie, wie man mit der Krise der Gegenwart umgehen könnte. Es ist die Strategie, welche die katholische Kirche bis zum zweiten vatikanischen Konzil gefahren hat. In der Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit wurde eine Art Untergang der Menschheit und Verfall der Moral gesehen Wenn alles erlaubt ist, wenn jeder denken und glauben kann was er will, dann kann das doch nicht gut gehen. Die Vertreter dieses altmodischen Weges in der Gegenwart sehen in der Spaltung der deutschen Gesellschaft, gerade was die Coronakrise betrifft, eine Bestätigung dieses Weges und Folgen der Freiheit, die uns letztlich nur Böses und Schlechtes bescheren. Deshalb sollten wieder alle in den Schoß der einen, heiligen und reinen Kirche zurückkehren. 

 

Im Moment gibt es viele Anzeichen dafür, dass es in der katholischen Kirche starke Kräfte gibt, diesen konservativen Weg zu gehen.

Bei der evangelischen Kirche gab es bereits in der Vergangenheit Strategien, denn eine große Krise in Deutschland entstand bereits im Rahmen der Industrialisierung und dem rasanten Anwachsen der Städte im 19. Jahrhundert. Dies stellte auch für die evangelische Glaubensgemeinschaft eine besondere Herausforderung dar. Man versuchte lediglich, die Menschen in die Gemeinde einzuführen und hielt regelmäßig Gottesdienste. Dadurch entstanden riesige Kirchengemeinden in denen kaum jemand den Pfarrer persönlich gekannt hat. Noch weniger wurden die Arbeiter, die am Rande der Städte in Siedlungen gelebt haben, wahrgenommen. Die meisten Pfarrer waren gebildete Menschen und hatten überhaupt keinen Bezug zu der arbeitenden Klasse. 

 

All dies führte dazu, dass Mitte des 19. Jahrhunderts der prozentuale Anteil der Gläubigen in einem Berliner Gottesdienst bei gerade mal 2 Prozent lag. Für dieses Problem gab es, wie schon eingangs erwähnt, ebenfalls zwei Strategien: Auf der einen Seite hat man sich seitens der Kirche der Arbeiterklasse zugewandt, zudem entstand in der gleichen Zeit das Reformprogramm mit dem Namen „Gemeindebewegung“. Besonders Pfarrer Emil Sulze (1832-1914) hat sich in diesem Zusammenhang stark eingesetzt: Er hat als einer der ersten erkannt,  dass diese übergroßen Gemeinden viel zu unpersönlich sind und daraufhin versucht, überschaubare Glaubensgemeinden zu gründen, in welchen jeder jeden gekannt hat und man sich gegenseitig geholfen hat, den Alltag zu bestehen. Es sind gesellige Abende eingerichtet worden, man verbrachte Freizeit miteinander und machte gemeinsame Ausflüge (eine sehr deutliche Anlehnung an die spätere Vereinstätigkeit in Deutschland). 

 

Ein paar Jahrzehnte später, kam jedoch eine neue Krise. Eine Krise durch mangelndes Gottvertrauen, bedingt durch den ersten Weltkrieg und die verlorene Hoffnung, das Christentum könnte diesen durch moralische Werte und einen starken Glauben an das Gute verhindern. Was war falsch am Christentum, dass sowas Schreckliches geschehen konnte? Das war die große, im Raum stehende Frage. In der so genannten dialektischen Theologie, deren prominentester Vertreter, der Professor und Pfarrer Karl Barth war, wurde eine Lösung angeboten: Die Überzeugung dieses Ansatzes ist, man könne von einem Menschen gar nichts Gutes erwarten, sondern alles nur vom Gott. Denn der Mensch werde immer unvollkommen und fehlerhaft bleiben und ist daher immer auf göttliche Gnade angewiesen. Die dialektische Theologie hat keine wirkliche Reform hervorgebracht, sie betonte vielmehr den Gottesdienst als den Ort der Gottesbegegnung, an dem die Gemeinde ein Gegenpol zu der modernen, weltlichen Gesellschaft ist. 

 

Nach dem zweiten Weltkrieg, durchaus auch ausgelöst durch die dialektische Theologie, gab es eine große Blütezeit der evangelischen Kirche in Deutschland. Die so genannten „Achtundsechziger" haben eine neue Krise, einer etwas anderen Art mit sich gebracht. Vor allem junge Menschen haben sich damals gegen das Establishment gewandt und damit auch gegen die eher konservativ geprägte, evangelische Kirche. Sie wollten mehr Mitspracherecht und mehr gesellschaftsrelevante Aktionen, es kam eine große Welle der Austritte aus der Kirche. Gegengesteuert hat man in dieser Zeit mit dem so genannten missionarischen Gemeindeaufbau - allerdings mit recht wenig Erfolg. Zudem hat man versucht, Management-Methoden in der Kirche einzuführen, in der Hoffnung, dadurch effektiver zu werden. Doch auch hier war leider kaum positive Veränderung zu beobachten. 

 

Gibt es einen Zusammenhang dieser der Krise des Glaubens und der Gesellschaft?

Aktuell gibt es Theorien unter den Theologen, dass die Krise der Demokratien weltweit auch mit der Krise des Glaubens zusammenhängt. Ein Befürworter dieser Theorie ist unter anderem Hartmut Rosa, der in diesem Zusammenhang ein Buch mit dem Titel „Demokratie braucht Religion“ herausgebracht hat. Dahinter steckt die Idee, das zum Menschsein eben nicht nur die technische Machbarkeit gehört, sondern dass jeder eigentlich genau weiß, dass das gesamte Leben auf der Erde etwas Endliches ist. Die Theorie dahinter besagt, dass man von der Geschöpflichkeit auf einen Schöpfer schließen könnte, der einem hilft, mit Begrifflichkeiten wie Endlichkeit, Respekt und Achtsamkeit den Menschen zu begegnen. Wenn man dies täte, wäre unsere Gesellschaft ein Stückweit weniger eine Ellbogengesellschaft.

 

Persönliche Bewertung und Ausblick

Was die persönliche Bewertung der Situation betrifft, so hat Herr Arras einige Gedanken dazu, die er gerne teilen möchte: Zwar bedauert der Regionalbischof den Weggang der vielen Kirchenmitglieder, zugleich empfindet er gerade diese Zeit, in der wir aktuell Leben als sehr spannend. Aus evangelischer Sicht ist mit der Betonung des Individuums, aber auch der freien Entscheidung, was und wem man glaubt, die  Reformation eigentlich an ihr Ziel gekommen. „Denn war es nicht eines der Anliegen von Martin Luther, dass jeder Mensch persönlich und nicht von einer Institution vertreten vor Gott steht?“ fragt Arras rhetorisch. Und genau das ist im Moment der Punkt: Jeder von uns kann selbst entscheiden, wem und was er glauben. Die Staatskirchen haben ihre Macht verloren, dies könnte zu mehr Freiheit in religiösen Dingen führen. Natürlich gibt es auch neue Gegenbewegungen. Das neue Erstarken von Nationalkirchen (in Russland oder Lettland beispielsweise) kommt schon einem Staatskirchentum sehr nahe. Zugleich findet aber vielerorts ein Abwenden von staatlichen Religionen statt. 

 

Krisen, Abbrüche, Neuanfänge und Reformationen gehören bereits seit Jahrhunderten zum Christentum dazu. Nicht nur das: "Das hält uns eigentlich lebendig“, ist Herr Arras überzeugt. Bedenkt man, dass die Christenheit als kleine Bewegung begonnen hat, bereitet dem Theologen die Vorstellung an eine kleine Kirchengemeinschaft weder Angst noch Sorge. 

 

Fakt ist auch: Ohne die Kirchensteuer hätten die Kirchen deutlich weniger Einnahmen, dafür vielleicht wieder mehr Bindung zu den Mitgliedern. „Denn wenn man freiwillig entscheidet, wann und für was man gibt, fühlt man sich mit der Gemeinschaft enger verbunden“, schätzt der Theologe den Umstand ein. Auch die Vielfalt innerhalb der Christenheit ist nicht zu bedauern, sondern Teil der eigenen DNA: „Die Bibel, die die Menschen mehr oder weniger kennen, dreht sich im neuen Testament sehr stark um Jesus Christus. Darin finden sich gleich vier Glaubenszeugnisse von ihm, beim genauen Hinsehen lassen sich sogar Widersprüche in den vier Evangelien entdecken. Genau das ist durchaus gewollt und vielleicht sogar weise, denn in religiösen Dingen gibt es und gab es schon immer eine gewisse Vielfalt“.

Abgeschlossen hat Herr Arras den Vortrag mit einer Erzählung über eine namenlose Figur aus der Bibel, den Beamten aus Äthiopien (Apostelgeschichte 8), welche mit folgenden Worten endet: „Und er zog aber seine Straße fröhlich ….“. Genau diese Fröhlichkeit und Zuversicht, die in dieser Geschichte drin steckt, sei laut dem Theologen essentiell wichtig, um Krisen der Kirchen in der Gegenwart, aber auch der Vergangenheit und der Zukunft zu begegnen. Denn ohne Gottvertrauen und ohne diese Fröhlichkeit, lässt sich keine Krise bestehen - weder diese noch zukünftige.