Ein Blogbeitrag von Meike Schumacher zum Vortrag von Dr. Martin Lüdemann, Beratender Wirtschaftspsychologe, Wiesbaden
Die Arbeitswelt steht vor einem grundlegenden Wandel: Zunehmende Komplexität, Unsicherheit und schnelle Veränderungen prägen den Alltag in Unternehmen. In seinem Ringvorlesungsvortrag zeigt Dr. Martin Lüdemann, beratender Wirtschaftspsychologe, wie entscheidend es ist, die menschliche Perspektive in diesen Prozessen zu berücksichtigen. Mit seiner Erfahrung aus der Beratung von Großunternehmen, Behörden und sozialen Organisationen unterstreicht Lüdemann, dass erfolgreiche Transformation nur gelingt, wenn die emotionalen und sozialen Aspekte der Arbeit ausreichend berücksichtigt werden.
Komplexität als Kernherausforderung
Die heutige Arbeitswelt wird oft durch das Schlagwort „VUCA“ beschrieben: Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität. Dieser Begriff entstand in den 1990er Jahren im militärischen Kontext, um die Unvorhersehbarkeit der Welt nach dem Kalten Krieg zu beschreiben. Lüdemann zeigt, wie diese Dynamik auch in der Wirtschaft Realität geworden ist. Unternehmen müssen sich nicht nur an eine globale, digitalisierte Welt anpassen, sondern auch an sich ständig verändernde Märkte und soziale Erwartungen.
Lüdemann veranschaulicht diese Komplexität mit realen Beispielen: Das Fischsterben in der Oder, verursacht durch zahlreiche, miteinander verknüpfte Faktoren, oder die Herausforderungen bei internen Logistikprozessen großer Unternehmen. Diese Beispiele verdeutlichen, dass viele Probleme nicht einfach zu lösen sind, da ihre Ursachen und Wechselwirkungen oft erst spät sichtbar werden.
Dietrich Dörners Definition von Komplexität – ein System mit vielen Variablen, die untereinander verknüpft, aber nicht vollständig durchschaubar sind – ist dabei zentral. Lüdemann betont, dass solche Systeme oft zu Ängsten führen, da Menschen das Gefühl verlieren, die Kontrolle zu haben.
Die Folgen von Angst und vereinfachtem Denken
Wenn Menschen in komplexen Situationen Angst empfinden, reagieren sie häufig mit vereinfachtem Denken und Handeln. Dies äußert sich in verschiedenen Verhaltensweisen:
· Reduktionismus: Komplexe Probleme werden auf wenige, oft irrelevante Variablen reduziert.
· Gruppendenken: Kritische Meinungen werden ausgeschlossen, um innerhalb der Gruppe eine scheinbare Einheit zu bewahren.
· Aktionismus: Schnell getroffene Entscheidungen, die wenig durchdacht sind, werden bevorzugt.
Lüdemann vergleicht dieses Verhalten mit historischen Beispielen, wie der gescheiterten Schweinebucht-Invasion den USA, bei der falsche Annahmen und fehlende kritische Stimmen zur Katastrophe führten. Auch in der heutigen Arbeitswelt zeigt sich dieses Phänomen, wenn z. B. Unternehmen unter Druck unüberlegte Strategien verfolgen oder bewährte Routinen blind wiederholen.
Unter anderen zitiert er den Psychologen Edgar Schein, der betont, dass klassische Diagnosen in komplexen Situationen oft scheitern. Stattdessen sei es notwendig, flexibel und kreativ auf neue Herausforderungen zu reagieren.
Strategien zur Bewältigung von Komplexität
Um mit komplexen Systemen erfolgreich umzugehen, sind laut Lüdemann folgende Ansätze zentral:
1. Akzeptanz von Unsicherheit: Es ist wichtig zu akzeptieren, dass nicht alle Probleme vollständig gelöst werden können.
2. Denken statt Handeln: Spontanes und impulsives Handeln sollte vermieden werden, um Raum für fundierte Überlegungen zu schaffen.
3. Gemeinsames Reflektieren: Teams sollten regelmäßig Zeit und Raum erhalten, um Probleme gemeinsam zu analysieren und innovative Lösungen zu entwickeln.
New Work: Chance oder zusätzliche Herausforderung?
New Work wird häufig als Antwort auf die Herausforderungen der VUCA-Welt betrachtet. Konzepte wie Selbstorganisation, agile Arbeitsmethoden und neue Raumkonzepte sollen Unternehmen zukunftsfähig machen. Lüdemann sieht jedoch auch kritische Aspekte: Viele dieser Ansätze erhöhen die Komplexität innerhalb der Organisationen zusätzlich. Ohne klare Orientierung und ein unterstützendes Führungsmodell können sie zu Unsicherheit und Frustration führen.
Gefahren eines oberflächlichen New Work-Ansatzes:
Lüdemann beschreibt Beispiele aus der Praxis, in denen New Work oberflächlich umgesetzt wurde:
· Kreativ gestaltete Besprechungsräume, die als „magische“ Lösung für Innovationsprobleme angesehen wurden.
· Einführung agiler Methoden wie Scrum, ohne die Mitarbeitenden ausreichend in den Prozess einzubinden.
· Auflösung klarer Führungsrollen, die zu Orientierungslosigkeit und Konflikten führte.
Solche „Cargo-Kult“-Ansätze, wie Lüdemann sie nennt, versprechen Transformation durch bloße äußere Veränderungen, ohne die zugrunde liegenden menschlichen und organisatorischen Herausforderungen anzugehen.
Die zentrale Rolle der Führung
Lüdemann betont, dass gute Führung der Schlüssel zu erfolgreichem Umgang mit Komplexität und New Work ist. Führungskräfte sollten:
· Psychologische Sicherheit schaffen: Mitarbeitende sollen sich sicher fühlen, ihre Meinungen und Ideen zu äußern, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen.
· Strukturen bieten: Klare Rollen, Verantwortlichkeiten und Regeln geben Orientierung in unsicheren Zeiten.
· Emotionale Unterstützung leisten: Führungskräfte sollten Ängste ernst nehmen, Sorgen ansprechen und Stabilität vermitteln.
Ein Beispiel aus Lüdemanns Praxis illustriert die Bedeutung von Führung: In einem großen Softwareprojekt eines produzierenden Unternehmens führte die Einführung agiler Methoden zu Spannungen. Durch die Einrichtung regelmäßiger „Reflective Spaces“, in denen Management und Mitarbeitende ohne Agenda Probleme offen besprechen konnten, konnten Konflikte gelöst und die Zusammenarbeit verbessert werden.
Reflektierte Praxis als Schlüssel zum Erfolg
Ein zentraler Bestandteil von Lüdemanns Ansatz ist die „Reflective Practice“. Dabei handelt es sich um strukturierte Räume, in denen Teams und Führungskräfte gemeinsam über ihre Arbeit reflektieren können. Diese Praxis fördert:
· Kreative Lösungen: Durch den Austausch verschiedener Perspektiven entstehen oft neue Ideen.
· Emotionale Entlastung: Ängste und Unsicherheiten können ausgesprochen und bearbeitet werden.
- Zusammenhalt im Team: Der offene Dialog stärkt die Bindung zwischen den Teammitgliedern.
Lüdemann weist darauf hin, dass reflektierte Praxis nur in einem Umfeld der psychologischen Sicherheit gelingt. Gruppen müssen lernen, respektvoll miteinander zu kommunizieren und unterschiedliche Meinungen als Bereicherung zu sehen.
Fazit: Der Faktor „Mensch“ im New Work
New Work bietet zahlreiche Chancen, aber auch Herausforderungen. Lüdemann zeigt, dass die menschliche Dimension nicht vernachlässigt werden darf, wenn Unternehmen erfolgreich mit Komplexität umgehen wollen. Seine Botschaft lautet: „Es braucht Räume der menschlichen Begegnung, um erfolgreich zu sein – gerade in einer Welt, die immer komplexer wird.“ Durch empathische Führung, reflektierte Praxis und eine klare Struktur können Organisationen eine Arbeitsumgebung schaffen, in der Menschen und Unternehmen gleichermaßen gedeihen.